Fabia Mortis
Nachtgieger
Eine Schreckgestalt aus Franken

Der Mond ist aufgegangen
Am Kirchturm schlägt es zehn
Von der Wolkennacht umfangen
Erklingt schauriges Gestöhn.
Es schwebt auf dunklen Wegen
Ums Haus zum Rosengarten
Wie ein Windhauch bebend
Lauert es im Schatten.
Dort wird es hungrig jagen
Bis zur Morgenstund‘
Nach Mägdelein und Knaben
Und zartem Fleisch im Mund.
Das Ding wird all die Kinder fressen
Welche nicht brav ins Bettlein geh’n
Die rechte Zeit im Spiel vergessen
Wenn die Turmuhr zeigt auf zehn.
Drum seid folgsam und bescheiden
Hört, was Euch die Mutter sagt
Finst’re Flecken sollt Ihr meiden
Wartet auf den lichten Tag.
Im Morgengolde wird‘s verblassen
Zerfließend, ohne Macht
Schlaflos träumt es in den Gassen
Wie’s an bleichen Knochen nagt.
Der Nachtgieger (mundartl. auch Nachdgiecher, Noochdgieger) bezeichnet u.a. eine in Franken gebräuchliche dunkle Schreckgestalt. Über seine äußere Erscheinungsform besteht allerdings Ungewissheit. Er ist eine Art universelles Monstrum mit vampirähnlichen Zügen, welches seit jeher von Eltern bemüht wird, um dem unbotmäßigen Nachwuchs Angst einzujagen. Es geht die Mär, dass der Nachtgieger nach 22 Uhr durch die dunklen Straßen schleicht, um Kinder zu jagen und zu fressen, die frech sind und nicht brav in ihren Betten liegen. Glücklicherweise scheint es ihm jedoch verwehrt zu sein, in Menschenhäuser einzudringen, so dass folgsame Madla und Bürschla dort vor ihm sicher sind.
Als Kind habe ich mich tatsächlich vor dem Nachtgieger gefürchtet. Kürzlich kam er mir unvermutet in den Sinn, als ich nachts einen Schreckmoment erlebte, der von einer bedrohlich offenstehenden Schlafzimmerschranktür ausgelöst wurde. Wer weiß, ob er nicht vielleicht doch auf diesem Wege ins Haus schlüpfen könnte …
Ich finde, dass die charmante fränkische Schauerfigur durchaus ein eigenes Gedicht verdient hat!
© Fabia Mortis
08.06.22
Illustration: chainatp (iStock)